Die Suche nach dem Homo digitalis
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Schlagworte

homo digitalis
Editorial
homo medialis
Digitalität

Zitationsvorschlag

Pietraß, Manuela, und Jörg Zirfas. 2024. „Die Suche Nach Dem Homo Digitalis: Auf Dem Weg Zu Einer pädagogisch-Anthropologischen Theorie Der Digitalisierung“. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie Und Praxis Der Medienbildung 63 (Homo digitalis):i-xvi. https://doi.org/10.21240/mpaed/63/2024.09.19.X.

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Copyright (c) 2024 Manuela Pietraß, Jörg Zirfas

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https://doi.org/10.21240/mpaed/63/2024.09.19.X

1. Einleitung

Die anthropologische Frage nach der Stellung des Menschen sucht im Rahmen der fortschreitenden Digitalisierung nach Antworten: Ist der Mensch als Homo digitalis neu zu begreifen und ist mit ihm pädagogisch anders umzugehen?

Die Digitalisierung stellt eine besondere Form der Veränderung der Grundlagen von Erfahrung und Welterkenntnis dar und ist damit von pädagogischer Relevanz. Die Anthropologie liefert einen Zugang, dessen Bedeutung in ihrer Frage nach den den Menschen charakterisierenden Bestimmungen liegt. Aufgrund ihrer vielfältigen interdisziplinären Zugangsweisen und auch aufgrund ihrer unterschiedlichen anthropologischen Perspektiven kann die Medienpädagogik aus der Anthropologie wichtige Einsichten und Perspektiven gewinnen, welche sie selbst nur unzureichend beibringen und klären könnte. Die mit der Digitalisierung bzw. den digitalen Gütern bezeichneten Veränderungen der Wissens- und Kommunikationsprozesse führen nämlich nicht nur zu einem tiefgreifenden Wandel in Kultur, Politik, Gesellschaft und Bildung, sondern auch zu einer Neufassung des Menschen, der sich lebenslang mit diesen Entwicklungen beschäftigen wird. Die Datafizierung, die Distribuierung von Informationen, die Technologien von Computer und Internet, Lern- und Entwicklungssoftware sowie künstliche Intelligenz und Robotik werden wichtige Auswirkungen auf Bildungs-, Sozialisations- und Unterrichtsprozesse haben. Dabei erscheint sowohl eine medienpädagogische wie eine pädagogisch-anthropologische Forschung zwingend erforderlich, die nicht nur die negativen Aspekte wie Überwachung, Kontrolle, Disziplinierung, Manipulation oder fake news, sondern auch die positiven Aspekte wie Vernetzung, Demokratisierung, Diskurse und Globalisierung im Kontext von Bildung, Sozialisation und Unterricht in den Blick nimmt (vgl. Bilstein et al. 2020).

2. Zum Begriff Digitalisierung

Die Digitalisierung wird vorliegend in einem medienpädagogischen Sinn verstanden als Phänomen, das durch Umsetzung digitaler Daten in elektronisch vermittelte Zeichen entsteht. Der Homo digitalis ist jenes Lebewesen, dem Welt in diesem Sinne zugänglich wird.

Die pädagogisch-anthropologische Frage nach dem Homo digitalis verlangt mithin einen doppelten Zugriff: Zum einen gilt es zu klären, wie sich die Welt durch die Digitalisierung verändert, zum anderen ist zu klären, welche Bedeutung man dieser Veränderung aus anthropologischer Sicht verleiht und inwiefern sie anthropologische Sachverhalte tangiert. Um dabei die Digitalisierung konsequent zu berücksichtigen, ist es nicht ausreichend, von der Andersheit digitaler Phänomene auszugehen, als sei diese ganz einfach dadurch gesetzt, dass die digitale Technik diese Phänomene als digital setzt. Versteht man die Andersheit als gesetzt, ohne sie näher durch ihre theoretische Fundierung zu erfassen, ist der Unterschied des Digitalen auch methodisch nicht mehr markierbar. Ob man die Andersheit so tatsächlich erkennt, ist damit eher dem Zufall überlassen. Aufschlussreicher erscheint es, dasjenige explizit zu thematisieren, was Phänomene als digital auszeichnet.

Für eine erste systematische Erfassung digitaler Phänomene bietet sich z. B. der Ansatz von Peter Hubwieser (2018) an. Er unterscheidet drei Kontexte von Digitalisierung, die folgend auf die medienpädagogische Frage angepasst werden (Pietraß 2019, 140f.):

  1. Auf der Mikroebene geht es um die Interaktionen der Nutzenden mit digitaler Technik, genauer mit der Software. Solange eine solche Software keine Vernetzung mit anderen Individuen oder datenverarbeitenden Systemen unterhält, besteht ein interaktives und geschlossenes System zwischen Nutzer und Angebot, ähnlich wie ein Buch, das, wenn man es schliesst, keine direkte Wirkung durch das in ihm enthaltene, noch ungelesene ‹Wissen› entfaltet.
  2. Wenn die von einem Individuum mit einer Maschine vorgenommenen Interaktionen nicht nur geschlossen verwendet werden, sondern die vom Nutzer generierten Aktionen als Daten gespeichert werden und diese wieder anderen digitalen Prozessen zur Verfügung gestellt werden, dann entstehen Folgen der Digitalisierung auf der Mesoebene: Das Individuum wird durch Softwareapplikationen sozial vernetzt; es wird beobachtbar, kann sich aber auch selbst beobachten (wie bei Gesundheits- oder Sportapps).
  3. Übertragen auf die Digitalisierung und deren besonderen Vermittlungscharakter gehört zum Verstehen der Technik «nicht nur der Geist, der die Technik bewirkt, sondern auch der, den sie bewirkt» (Blumenberg 2009, 78). Dieser Geist kann in Wissensobjektivationen aufgespürt werden, z. B. in der Medizin oder an der Schnittstelle zu einem Autopiloten.

Diese drei Dimensionen und ihre Vernetzung untereinander verändern digital konzipierte Medienanwendungen. Ein Beispiel für die so entstehenden Unterschiede, die die Digitalisierung bewirkt, ist das Lesen von Nachrichten auf sozialen Plattformen als vernetzter Akt, der auf der Ebene (2) angesiedelt ist und durch die Möglichkeit zur direkten Partizipation (z. B. durch Chats) gegeben wird. Das einsame Lesen eines Buches bei Kerzenlicht hingegen wird abgegrenzt von anderen vollzogen, wie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vom Maler Petrus van Schendel mehrfach dargestellt. Das Lesen auf sozialen Plattformen hingegen ist ein Vollzug kommunikativer Vernetzung, nicht eine Vernetzung von Menschen mit ihren Körpern, die in einem materialen Raum zugegen sind, sondern von ihrer Kommunikation. Einzuräumen ist natürlich, dass dies für jede Kommunikation mit Medien gilt, doch wird mit den digitalen Medien eine quantitative Steigerung dieses Sachverhalts erreicht und er gilt für alle Menschen, weil potenziell jeder öffentlich kommunizieren kann, was bei den Printmedien durch deren Zugangsbeschränkung weitaus schwieriger ist.

3. Die methodische Erfassung des «digitalen Unterschiedes»

In der Medienpädagogik spielt immer eine epistemologische Unterscheidung eine Rolle: Welchen Unterschied stellen Phänomene aufgrund ihrer Medialität her? Bezüglich des Bildes spricht Gadamer (1995) von einer «Seinsdifferenz» desselben, womit er den Unterschied zwischen der zweidimensionalen, real aussehenden Darstellung im Unterschied zur Welt meint, die im Bild visuell wahrnehmbar wird. Auch die digitale Welt schafft bei Immersion einen hohen wahrgenommenen Realitätsgrad, eine Art Seinsdifferenz von Virtual Reality oder Computerspielwirklichkeit. Die Bestimmung einer Seinsdifferenz des Digitalen ist also sinnvoll, weil auf der Phänomenebene in den Wahrnehmungen Anteile des Digitalen an der Realität hervorgerufen werden. Diese Differenz ist als Unterschied nur dann erfassbar, wenn, wie oben angesprochen, für die Digitalisierung ein eigener theoretischer Zugang angewendet wird. Um das zu erfassen, was sich von den technischen Bedingungen der Digitalisierung her verändert, sind zur anthropologisch gestellten Frage nach dem Homo digitalis grundsätzlich zwei Zugänge auffindbar:

  1. Die Beschreibung der Erfahrung von Phänomenen der Digitalisierung: In der Medienpädagogik, in der es um Medialität geht – und zwar im engeren Sinn um die Medialität als technische Bedingtheit von Kommunikation –, sind dies Phänomene von (digitalen) Schnittstellen. Nach diesem Ansatz wird das, was man anthropologisch zu erfassen sucht, als abhängige Variable gesetzt und das digitale Phänomen als unabhängige Variable.
  2. Beschreibung der Digitalisierung als technik-anthropologisches Entwicklungsphänomen: Einen entsprechenden Ansatz wählt der Soziologe Armin Nassehi. Er stellt die Frage: «Für welches Problem ist die Digitalisierung die Lösung?» (2019, 28). Anthropologisch gewendet wird bei diesem Vorgehen die Digitalisierung nicht als etwas dem Menschen Gegenübergestelltes verstanden, sondern als konstitutiv für das Weltverhältnis des Menschen. Ein klassisches Beispiel ist dafür Plessners (1975) Konzept von der «künstlichen Natürlichkeit» des Menschen.

Die methodische Herausforderung liegt jeweils darin, dass Veränderungen zu erfassen sind, die auf Bedingungen beruhen, welche diese Veränderungen ermöglichen, aber nicht notwendigerweise in diesem verändernden Potenzial schon genutzt werden. Aus diesem Grund ist der erste Zugang der weit häufiger und historisch gesehen früher aufzufindende. Er liefert empirische Kenntnisse über das, was als neu erscheint, und kann sich auf die Erfahrung und Erfahrbarkeit des Neuen beziehen. Demgegenüber verlangt der zweite Ansatz, etwas noch Unsichtbares, Unmerkliches, systematisch trennscharf zu erfassen. Dies ist schwierig, weil neue Medientechniken zunächst so genutzt werden wie die vorhergehenden, lediglich technisch gesteigert, wie etwa durch erhöhte Empfangs- oder Speichermöglichkeiten. Damit ist das zu untersuchende Neue des Digitalen nur schwer erkennbar, weil die neuen technischen Möglichkeiten bei der Formatgestaltung noch an die vorangehenden Formate angepasst werden.

Erst wenn die Praxis die neuen Gestaltungsmöglichkeiten erkennt, können neue Formate entwickelt werden, die so nur mit den jeweils neuen Medien realisierbar sind. So wurde anfangs an den Universitäten ein Seminar schon dann als ‹virtuell› verstanden, wenn die Literatur statt als Fotokopie mithilfe von pdf-Dateien und Scans digital zugänglich gemacht wurde; Fernsehnachrichten waren in den 1950er-Jahren am Hörfunk ausgerichtet und der Film darin lange Zeit – wie die noch in den 1950er- und 60er-Jahren an die Theaterbühne erinnernden Hintergrundkulissen aus Hollywoodfilmen. Entsprechendes gilt für die digitalen Medien: Die 3D-Technik wird vor allem darauf ausgerichtet, Raum dreidimensional darzustellen, aber sie spielt noch wenig mit der Möglichkeit, Raum epistemisch zu nutzen. Ein Anwendungsbeispiel dafür liegt in der Museumsdidaktik, wo das Zeigen von Gegenständen im Raum tragend ist (Klein 2004): So kann z. B. der Raum, wie er von den Kriegsgräbern in den Jugendbildungsstätten des Volksbundes zur Veranschaulichung von massenhaftem Sterben im Krieg genutzt wird, digital so konzipiert werden, dass die digitale Struktur nicht etwa Substitut bleibt, sondern einen Mehrwert in der Differenz zur analogen Raumerfahrung bietet (Renner 2023). Dieser Mehrwert liegt in der visuellen Aufbereitung des Raums durch die Aneignung mit Wissen, welches im Sinne der Museumspädagogik dem Zeigen des Exponats – hier der Friedhof mit seinen Gräbern und deren Insignien – auf eine Weise mit erinnerungskulturellen historischen Bezügen und solchen der Friedenspädagogik verbinden kann. Doch auch diese Entwicklung lässt sich eher als ein Tasten in die Anwendungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der 3D-Technologie hinein verstehen, deren zukünftige Leistungsfähigkeit nicht in der Wiedergabe analoger, sondern in der Erschaffung epistemisch neuartiger dreidimensionaler Erfahrungsräume liegt.

Diese Potenziale zu erschliessen erfordert, die Anwendungsformen, die sich aus der bisher vorhandenen Technik ergeben, von jenen zu unterscheiden, die auf dem gänzlich Neuen der neuen Techniken beruhen. Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass etwas hinzutritt, das ganz anders ist als in allen vorangegangenen Techniken, wie die beweglichen Lettern der Drucktechnik nach Gutenberg. Diese zwei Anwendungsformen sind:

  1. Anwendungen, die eine Steigerung des Bisherigen darstellen.
  2. Anwendungen, die kategorial neu sind und sich nicht aus dem Bisherigen ableiten lassen.

Ad 1: Hier geht es um bereits bestehende technische Funktionen, die durch die neue Technik in verbesserter Form umgesetzt werden. Ein Beispiel ist die Digitalisierung von analogen Dateien. Die Inhalte sind nun weitaus einfacher speicher- und verbreitbar. Damit wird z. B. die Bereitstellung und Zugänglichkeit von Inhalten gesteigert, die zuvor nur gedruckt zur Verfügung standen.

Ad 2: Bei der digitalen Technik ist das kategorial Neue die Interaktivität über ein Eingabegerät und die damit erzielbare direkte Veränderung der Eingabeoberfläche. Auch das Lesen eines Buches oder das Betrachten eines Gemäldes ist interaktiv, weil Autor oder Maler ihr Werk als eine Auseinandersetzung mit einem interpretierenden Menschen konzipieren. Doch ist die Interaktion rein gedanklich und nicht konkret-praktisch, wie es eine durch Nutzereingaben veränderbare digitale Oberfläche gestattet.

Über die Interaktivität wird es möglich, die Bedeutung des durch die im binären Code liegende Kombinierbarkeit von Daten zu erfassen: Das Digitale kommt nicht dann zur Realisierung des in ihm angelegten Neuen, wenn es auf die Erfassung und Speicherung von systematisierbarer Erfahrung beschränkt bleibt, nicht auf das Gegenwärtige, wie die Abbildung des Jetzt mit der Life-Kamera, sondern auf das Zukünftige gerichtet ist, auf das, was sein könnte. Hier hat es zwei Formen: das Video-Spiel und die Simulation von Zukunft. Das Neue an der Digitalisierung wird in beiden Formaten realisierbar im Modus der «Potenzialität von Realität» (Pietraß 2024).

4. Der «digitale Unterschied» im aktuellen Forschungsstand: Die Beschreibung anthropologischer Veränderungen

Der aktuelle Forschungsstand zeigt einen Schwerpunkt, der auf der Beschreibung der Erfahrung von Phänomenen der Digitalisierung liegt. So ergab ein Call for Papers für eine Preisschrift unter dem Titel «Homo digitalis. Neue Fragestellungen der Medienpädagogik aus anthropologischer Perspektive» (Pietraß und Zirfas 2021), der explizit die Verwendung von Konzepten der Digitalisierung anriet, dass ein solches bei keinem der von den eingereichten Beiträgen konsequent angewendet wurde. Ganz offenbar, so unsere Überlegungen, ist die Zeit noch nicht reif, um ein breites Verständnis für eine solche Abstraktionsstufe zu erreichen. Im Augenblick dominiert noch die Arbeit an den konkreten Phänomenen. Sie aber ist, wie bereits gesagt, der erste und nicht weniger wichtige Schritt als der im Call geforderte zweite.

Auf den ersten Blick sind mit der Digitalität anthropologische Verschiebungen im menschlichen Selbst- und Weltverständnis, im praktischen Umgang mit sich und anderen, aber auch im emotionalen Gefüge verbunden. Dass das moderne Ich sich, anderen und der Welt (vor allem) über digitale Medien ‹begegnet›, hat Auswirkungen darauf, was es wahrnimmt, wie es Sachverhalte beurteilt, was im gefällt und wie es mit sich und anderen umgeht. Historisch betrachtet haben Medien immer schon die anthropologischen Dimensionen des Verstehens, der Praktiken und des Emotionalen verändert. Dies lässt sich sehr gut etwa an Arbeiten zur Zahl, zur Schrift, zur Stimme, zum Fernsehen oder zum Bild ablesen (vgl. Zirfas 1997; Sting 1998; Westphal 2002; Hörisch 2004; Wulf 2014).

Die soziale Verfasstheit des Menschen wird tangiert, weil durch sie neue – etwa netzbasierte – Formen des Sozialen entstehen. Die räumlichen Strukturen des Humanen entgrenzen und verdichten sich gleichzeitig, seine zeitlichen Strukturen beschleunigen sich und werden gleichzeitig einer Präsenzlogik unterworfen. Immer stärker rückt auch die Bildlichkeit bzw. Bildschirmhaftigkeit des Menschen in den Blick – was wiederum erkennbare Auswirkungen auf die Selbst- und die Weltwahrnehmung hat (vgl. Daryan 2017). Nicht zuletzt tangiert die Digitalisierung auch die Identität des Menschen, sein Selbstverständnis und seinen Selbstentwurf – da er sich nun mit einem ‹digitum› (Finger) gänzlich neue Identitäten, schaffen kann.

Im Folgenden werden die Ergebnisse dieser Beiträge in einen grösseren anthropologischen Zusammenhang gestellt, der sich aber nicht aus einer vorgefertigten Systematik anthropologischer Kategorien ergibt, sondern aus einer Zuordnung der Erkenntnisse zu diesen Kategorien.

4.1 Relationen und Verschränkungen

Digitalisierungsprozesse und -praktiken, so ein wichtiger Befund der Forschungen, durchziehen die gesamte Lebenswelt der Menschen und dadurch verschränken sie sich mit ihren praktischen Lebensformen, mentalen Strukturen und emotionalen Befindlichkeiten. Diese Verschränkungen fordern eine relationale Anthropologie, die v. a. die Schnittfelder von Mensch und Technik in den Blick nimmt (vgl. Rieger 2003; Latour 2008) und dabei nicht nur beschreibt (und bewertet), wie sich das Verhalten der Menschen durch Digitalisierung, sondern auch, wie sich die Digitalisierung durch unterschiedliche Sichtweisen und Praktiken im Umgang mit Digitalität ändern kann – und ändern sollte. Eine diesbezügliche relationale pädagogische Anthropologie zielt mithin auf die wechselseitige Verschränkung von Digitalität als technisch-materielle, kommunikative und interaktive Umwelt mit menschlichen Selbst-, Anderen- und Weltverhältnissen. Dabei kann im Sinne einer relationalen Anthropologie auch auf die gegenwartsdiagnostische Analysekategorie der Postdigitalität rekurriert werden, mit der sich die Verschränkung digitaler und analoger Lebenswelten theoretisch bearbeiten lässt (vgl. Juliane Engel und Jakob Schreiber 2024 in diesem Band). Eine relationale Anthropologie der Postdigitalität verdeutlicht auch, dass alle für Menschen bedeutsamen Verhältnisse etwa des Sozialen, Ökonomischen, Politischen, Ästhetischen und nicht zuletzt Pädagogischen ohne ein digitalisiertes «In-der-Welt-Sein» (Heidegger) nicht mehr zureichend verstanden werden können.

Die hierbei immer wieder zu konstatierende deskriptiv-normative Dichotomie lässt sich mit (einer Zunahme an) Autonomie auf der einen und (einer sich verstärkenden) Heteronomie auf der anderen Seite beschreiben. Gerade im Kontext der Politik bzw. der politischen Bildung stehen hierbei Hoffnungen auf Möglichkeiten der Selbstbestimmung, Partizipation, Demokratisierung und Sozialität (Klafki: Bildung als Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Solidarität) neben – und sich in der letzten Zeit intensivierenden – Befürchtungen von Überwachung, Klassifikation sowie digitaler Entmündigung. Diese Perspektiven erscheinen gerade für (politische) Bildungs- und Sozialisationsprozesse interessant. Es gilt, gerade die Schnittstellen analoger und virtueller Phänomene noch genauer zu untersuchen, um die Dichotomie und Dialektik von selbstbestimmtem Entwerfenkönnen und fremdbestimmter Unterwerfung kritisch zu überprüfen (vgl. von Borries 2016).

Hierbei kommt den Interfaces eine wichtige Rolle zu, weil sie Menschen mit der digitalen Sphäre verbinden. Weil interne Prozesse digitaler Technologien nicht direkt wahrnehmbar bzw. leiblich zugänglich oder beeinflussbar sind, sind Menschen auf diese Schnittstellen angewiesen. Aus einer postphänomenologischen Perspektive zeigen sich verschiedene Arten des Bezugs zwischen Menschen und Interfaces, die nicht nur Lenkungen, sondern auch Freiheitsspielräume implizieren (vgl. Anne Pesch 2024 in diesem Band). Damit verbunden sind Lenkungen und Veränderungen des Weltbezugs.

So kann man einerseits man mit dem postphänomenologischen Ansatz sensu Don Ihde (1990) verschiedene Grundtypen der Schnittstelle von Mensch-Technologie-Welt-Relationen – «Embodiment Relations», «Hermeneutic Relations», «Alterity Relations» und «Background Relations» – herausarbeiten. Mit den medientheoretischen Perspektiven von Asle Kiran (2015) wiederum lässt sich dann pointieren, dass durch die Schnittstellen Effekte auf verschiedenen Ebenen – einer epistemischen, einer ontischen, einer praktischen und einer moralischen – Wahrnehmungs- und Erkenntnismöglichkeiten erzielt werden können: Sie vergrössern oder verkleinern, legen offen oder verbergen, befähigen oder beschränken Handlungen und zeigen nicht zuletzt Wirkungen auf moralischer Ebene.

Damit wird deutlich, dass die mit Interfaces verbundenen Lernprozesse sich nicht nur auf der direkten Ebene auf ein situatives Können und Wissen mit Schnittstellen reduzieren lassen; Lernprozesse mit Interfaces betreffen auch weitergehend körperliche Habiti, kognitve Schemata und emotionale Geschmacksrichtungen – kurz: Selbst- und Weltverhältnisse lassen sich auf allgemeinerer Ebene durch praktische Erfahrungen und Gewöhnungsprozesse im Umgang mit Interfaces – im Rahmen von Lenkungen und Festlegungen wie in der Eröffnung von Spielräumen und Erweiterungen – festigen oder verändern.

4.2 Kompensationen und Erweiterungen

Als ein wichtiger Aspekt der anthropologischen Mediengeschichte erscheint der Aspekt der Kompensation in dem Sinne, dass Medien Möglichkeiten bieten, etwa kognitive oder soziale Mängel des Menschen auszugleichen. Diese Position kennen wir seit der Antike: Schon der Mythos des Sophisten Protagoras in Platons (427–47) gleichnamigem Dialog (Platon 1984) bringt eine anthropologische Grundposition zum Ausdruck, die sich bis heute in vielen verschiedenen Formen erhalten hat, nämlich die These, der Mensch sei ein Mängelwesen, dessen Kulturfähigkeit schon in seiner physischen Konstitution zu finden sei. Der Mensch mit seinen natürlichen Schwächen, seiner Instinktarmut und seinen Unangepasstheiten braucht Institutionen, Werkzeuge, Sitten, Technik und Künste, kurz: Kultur um zu kompensieren, was er von Natur aus nicht «mitbekommen» hat (vgl. Dederich und Zirfas 2002).

Auch die Digitalität hat einen solchen kompensatorischen Bezug – wenn etwa Organisationen Formen datengetriebener Steuerung zum eigenen Strukturaufbau nutzen und damit zugleich über ihre digitale Transformation den Homo organisans als Homo digitalis erzeugen (vgl. Thomas Wendt 2024 in diesem Band). Für Organisationen sind Menschen Mängelwesen, die durch Digitalisierung zu – im doppelten Sinne – besser organisierten Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen entwickelt werden sollen. So erscheint der Homo organisans als Ergebnis einer planerischen Systematisierung seiner Wahrnehmungs- und Handlungsmöglichkeiten durch Digitalisierung, die den Umgang mit seinen Motiven, Idiosynkrasien und Arbeitsweisen wesentlich prägt.

Die Veränderung von Wahrnehmungsformen, Kommunikations- und Handlungsmöglichkeiten hängt mit spezifischen Erfahrungsweisen zusammen, die durch digitale Medien ermöglicht werden (vgl. Johannes Hartogh 2024 in diesem Band). Digitale Erfahrungsräume bieten ein besonderes Potenzial für Bildungsprozesse, weil sie sich strukturell durch eine Dynamik von Bewegung (Veränderung, Transformation) und Verweilen (Immersion, Reflexion) auszeichnen (gilt v. a. für digitale Spiele). Die mit der Digitalität verbundenen Möglichkeitsräume, in denen Bewegung und Verweilen als interdependente Erfahrungsmomente zu denken sind, lassen sich wiederum als ästhetische Räume verstehen (vgl. Zacharias 2010; Jörissen 2017). In ihnen können wir erstmals durch Interaktion mit dem Interface einen medial gestifteten Umgang mit Beweglichkeit, Kontingenz, Schnelligkeit und Instantaneität lernen. Andererseits bieten die damit verbundenen ästhetischen Erfahrungen auch Formen intensiver Wahrnehmung, Flow-Erlebnisse, leibliche Immersionserfahrungen und praktisches Engagement. Der Begriff der ästhetischen Erfahrung greift die Doppelstruktur dieser Erfahrungsweisen auf, die sich aus einer aktiven und einer passiven Seite ‹zusammensetzt›: Die aktive Seite der Erfahrung besteht im Ausprobieren, Versuchen, Sich-Aussetzen und Erfahrungen ‹machen›, die passive Seite im Erleiden und Hinnehmen, in der Widerfahrnis von Dingen und Sachverhalten. Im Machen und Erleiden der ästhetischen Erfahrungen im Digitalen gehen die Ambivalenzen von Distanzierung und Engagement einher.

Zudem: Wer Digitalität ästhetisch begreift, verhält sich in epistemologischer und praktischer Differenz, in ästhetischer Aufgehobenheit zu ihr; er nimmt sie aus «als-Perspektiven» wahr und kann sich somit einen experimentellen Spielraum von Sinnlichkeiten, Wahrnehmungen und neuen Wirklichkeiten verschaffen. Ästhetische Erfahrungen des Digitalen als Prozesse des Zögerns und Zauderns, des Innehaltens und Balancierens, der Neubewertung und des Experimentierens zu verstehen, birgt auch Möglichkeiten neuen Verstehens und Darstellens, mithin Möglichkeiten der Kritik. Ästhetische Erfahrungen können insofern als kritisches Korrektiv oder auch als kritisches Regulativ von Formen und Prozessen der Digitalität fungieren (vgl. Zirfas 2018).

4.3 Autonomie und Unterwerfung

Die fortschreitende Digitalisierung hat weitreichende anthropologische Konsequenzen und stellt die Frage nach Freiheit und Selbstverfügung auf der einen, nach Überwachung und Kontrolle auf der anderen Seite noch einmal neu. Unterwerfen sich Menschen den Algorithmen des Digitalen oder beherrschen sie sie? Nimmt man das Konzept der Medialiät nach Faßler mit seinen Momenten «Wiederholung, Speicherbarkeit, Übertragbarkeit und Anschluss» zum Ausgangspunkt und betrachtet damit das Phänomen Lifelogging als zeitgenössische digitale Kulturpraktik, dann erscheint die Digitalisierung als ein «zweischneidiges Schwert», denn Lifelogging ermöglicht zugleich Kontrollier- und Verfügbarkeit für sich – aber eben auch für andere (u. a. Organisationen, Konzerne, Staaten). Möglichkeiten zu Entwicklung und Bildung sind damit ebenso impliziert wie Möglichkeiten der Überwachung, Kontrolle und Konkurrenz (vgl. Bianca Burgfeld-Meise und Lukas Dehmel 2024 in diesem Band).

Digitale Verfügbarkeit lässt sich als Antwort auf eine für die Moderne sehr charakteristische Frage nach der Sicherheit verstehen, denn Unsicherheits-, Angst- und Risikofragen lassen sich als zentrale Effekte der Moderne begreifen, die die Menschen seit nunmehr 500 Jahren umtreiben (vgl. Holert 2013). Der Versuch, Sicherheit herzustellen, erscheint dabei ambivalent. Nicht nur die Rede von «zu viel Sicherheit», von «vermeintlicher» oder «falscher» Sicherheit macht darauf aufmerksam, dass diese nicht nur unterstützend, sondern auch einschränkend, ja sogar bedrohlich sein kann – etwa für die Freiheitsspielräume liberaler Gesellschaften. Moderne Sicherheitsmechanismen sind nämlich mit einem «Herrschaftsmodus» verbunden, der als «Produktionsmodus» schliesslich die «Institutionalisierung von Unsicherheit zur Grundlage hat» (Bourdieu 2002, 391).

In diesem Sinne lässt sich zeigen, dass Codes, Algorithmen und Künstliche Intelligenz zwar für Strukturierungen und Vereinheitlichungen von Selbst und Welt sorgen, aber dadurch noch nicht automatisch Handlungssicherheit gewährleisten (vgl. Christian Leineweber 2024 in diesem Band). Es erscheint, durchaus im Sinne von Bourdieu, eher so, dass Digialität in Form von algorithmischen Kalkulationen, technologisch erzeugten Bestimmtheiten und kybernetischen Programmatiken die unsichere, fragile Verfasstheit moderner Subjekte nicht aufhebt, sondern verstärkt und reproduziert. Das Wissen über sich selbst, das durch das epistemische Potenzial von Codes, Algorithmen und Künstlicher Intelligenz erzeugt wird, transformiert nämlich den Menschen in ein unsicheres und fragiles Lebewesen, das wiederum der Digitalität bedarf, um sein Leben «führen» zu können. Insofern hat die digitale Transformation der Gesellschaft nicht nur bedeutsame Effekte auf der Ebene des Rationalen und Kalkulatorischen, sondern zunehmend auch auf der Ebene des Irrationalen, Assoziativen, Affektiven und Imaginären. Digitalität hat damit nicht nur Auswirkungen auf das Bewusstsein, sondern (auch und vor allem) auf das Unbewusste. Das Unbewusste in Form von verdrängten Wünschen, Projektionen, Idealisierungen, Identifizierungen und Reaktionsbildungen wird sozusagen ‹digitalisiert› und insofern gleichermassen verdrängter wie unverzichtbarer Teil des unsicheren Menschen, der nunmehr unreflektiert maschinelle Empfehlungen und damit einhergehende Handlungsaufforderungen schlicht übernimmt, ohne sie kritisch zu prüfen. Digitale Ergebnisse erzeugen eine vermeintliche Sicherheit, die im Kern die Unsicherheit der subjektiven Handlungs- und Erfahrungswelt noch vergrössert, weil sie Menschen immer abhängiger von einer Technologie macht. Kurz: «Hervorbringung und Anerkennung der menschlichen Fragilität avancieren damit zu prägenden Figuren des digitalen Wandels der Gesellschaft» (Leineweber).

Die transhumane Zukunft der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz wirbt mit der ‹unendlichen› Steigerbarkeit von Effizienz und Effektivität in allen Belangen. Das Ziel der humanen Perfektion der neuen, wesentlich digitalisierten Bio- und Technikwissenschaften besteht in der Erweiterung der menschlichen Fähigkeiten und der Überwindung der Beschränkungen menschlicher Natur, nicht nur im Hinblick auf eine humane Perfektionierung, sondern auch auf eine trans- oder posthumane Vervollkommnung, die die menschliche Natur hinter sich lassen will. Kulturpessimistisch formuliert: Das Zeitalter der Überwindung menschlicher Mängel und der Überwindung des Menschen scheint nahe.

Insofern erscheint der Homo digitalis als eine kritische Befürchtungsfigur, die die Auflösungserscheinungen des ‹Homo sapiens› angesichts von Gegenwartsdiagnosen des «Anthropozäns», des «Posthumanismus» oder auch «kybernetischer Entwicklungen» in den Blick nimmt (vgl. Sabrina Schenk 2024 in diesem Band). Die Verschiebung der humanen Möglichkeiten mit Hilfe von digitalen Technologien geht dabei weit über kompensatorische Anstrengungen hinaus und propagiert ein Menschenbild, das frei ist von Körperlichkeit, Vulnerabilität und Vergänglichkeit. Kurz, Digitalität verspricht Sicherheit, indem sie als Technologie propagiert wird, die als vom Menschen hergestellte kontrollierbar und beherrschbar erscheint und viele Aufgaben etwa in Form der Künstlichen Intelligenz (juristische oder medizinische Entscheidungen, Gesichtserkennung, Lernen des Lernens etc.) schneller, zuverlässiger und eindeutiger erledige als Menschen (Ramge 2019). Dass der Mensch damit hoffnungslos hinter der digitalisierten Technik zurückbleibt und ein «prometheisches Gefälle» angesichts dieser Entwicklung konstatiert werden muss, hat Günther Anders schon in den 1950er-Jahren festgehalten (Anders 1980, 18ff.). Im Hinblick auf die Entwicklungen zum Trans- bzw. vor allem zum Posthumanismus lässt sich dagegen festhalten, dass – zumindest in den Imaginationen einiger technologischer Philanthropen – das anthropologische Zeitalter der Digitalisierung des Menschen selbst nahe zu sein scheint. Somit erscheint der Mensch als «ein Bündel von codierten Informationen» (Groneberg 2012, 68), dessen Körper überflüssig und dessen ‹Geist› auf eine blosse Ansammlung von Informationen reduziert wird.

4.4 Anthropologisches Resümee

Vier Aspekte erscheinen vor dem Hintergrund des Skizzierten zunächst von Belang: Erstens stellt sich die alte wie moderne Frage nach der Neutralität oder Nicht-Neutralität der Technik und hier der Digitalität für die Pädagogik insofern wieder neu, weil noch nicht abschliessend geklärt scheint, inwieweit digitale Techniken und Technologien Einfluss auf die Bildsamkeit und Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen haben. Geht man zweitens mit den Ergebnissen der neueren pädagogischen Anthropologie davon aus, dass für Bildung und Entwicklung der Körper und die Körperlichkeit eine entscheidende Rolle spielen, dann rücken Fragen der ‹digitalisierten› Bedürfnisse und Wünsche, Antriebe und Motivationen, aber auch der Geschmacksbildungen, der Hexis- und Habitusformationen besonders in den Blick. Drittens erscheinen angesichts der Möglichkeiten der digitalen Technik und ihrer faszinierenden Möglichkeiten (um nicht zu sagen: Heilsversprechen) aber auch die mit ihr verbundenen Emotionen – Begeisterung und Enthusiasmus (Sicherheit!) auf der einen Seite, Ängste und Befürchtungen auf der anderen (Unsicherheit!) – sowie die mit ihr verbundenen mehr oder weniger realistischen Fantasien und Hoffnungen von grosser anthropologischer Bedeutung. Viertens wird es in einer pädagogischen Medien-Anthropologie auch immer wieder um die Frage gehen, wer Subjekt und Objekt der Digitalität ist, inwieweit dieses Medium zur Emanzipation und Bildung oder auch zur Unterwerfung und Disziplinierung führt.

Darüber hinaus lässt sich eine fünfte, hier nicht thematisierte Perspektive festhalten, die Digitalität als Produkt der westlichen, männlichen, rationalen und technologischen Hemisphäre versteht – das mit seinen universalistischen Ansprüchen unvermeidliche Externalisierungseffekte etwa in Bezug auf Irrationalität, Affektivität und Leiblichkeit von «un/an/geeigneten Anderen» impliziert (Morais dos Santos Bruss 2022, 138). Schon der Begriff der Digitalität, «der sich etymologisch aus der eindeutigen und binären Produktion von Unterschieden speist» (ebd., 145), verkürzt (und verkennt) die analoge anthropologische Welt, die eher aus Facetten, Spektren, Nuancen, Überscheidungen und Bezugnahmen besteht. Bildet damit die Digitalisierung nicht Sonder-Anthropologien aus, die Menschen in ihren unterschiedlichen Wissens- und Könnenskompetenzen hinsichtlich Digitalität verstehen und einordnen? Wird damit nicht eine Eindeutigkeit avisiert, die menschlichen Verhältnissen nicht gerecht wird?

Schliesslich lässt sich auch konstatieren, dass die Verknüpfung des Digitalen mit allen menschlichen Lebensformen und mit dem Menschen selbst dazu führt, dass sich Menschen zunehmend selbst digital(er) verstehen: als Produzenten von Digitalität, als Akteure in digitalen Räumen, als Objekte digitaler Technologien oder als Effekte algorithmischer Prozesse. Wer sich selbst als Mensch aber digital begreift, behandelt sich, andere und die Welt auch digital. Die damit verbundenen Folgen lassen sich zurzeit noch nicht in allen Facetten erfassen und bewerten, denn die Digitalisierung schreitet immer noch voran. Deutlich wird jedenfalls, dass es vor dem Hintergrund dieser anthropologischen Reflexionen nicht sinnvoll erscheint, eine vorschnelle Digitalisierung der Bildung flächendeckend durchzuführen, weil die mit ihr verbundenen anthropologischen ‹Kosten› durchaus als zu problematisch eingeschätzt werden können.

Für die Medienpädagogik relevant sind dabei jene digitalen Anwendungen, die medienartige Entwicklungen darstellen und über bildschirmgetragene Interfaces vermittelt werden. Wie im ganzen Prozess der Technisierung wird durch die Digitalisierung Wirklichkeit sozusagen ‹unterworfen› und ihrer «Füllen» beraubt (Husserl 1982). So werden in den digitalen Wirklichkeiten Weisen der Überwindung des «Hiatus zwischen Geist und Leiblich-Seelischem zu der nur als vermittelt zugänglichen Wirklichkeit» (Pietraß 2019) konstituiert. Gleichzeitig entstehen aber wiederum andere wirklich-virtuelle bzw. virtuell-wirkliche Welten mit neuen Handlungs-, Spiel- und Experimentierräumen, neuen Formen der Identität und Gemeinschaft und neuen kulturellen Performativitäten und Symboliken (vgl. Jörissen 2007).

5. Fazit

Aktuell sind theoretische Konzeptionen der Digitalisierung und empirische Erhebungen, die diesen Unterschied konstitutiv einbeziehen, noch rar. Noch ist der Forschungsdiskurs stark auf die Phänomene gerichtet, wie der aktuelle Forschungsstand aufzeigt und wie z. B. im vorliegenden Schwerpunktheft Homo digitalis der Zeitschrift MedienPädagogik (2024) sichtbar wird. Der Rückgriff auf Konzepte des Homo medialis ist nur von begrenzter Erkenntniskraft, weil nicht alle digitalen anthropologischen Phänomene vom Konzept der Medialität her erschliessbar sind. Das Digitale ist, wie die hier zitierten empirischen Darstellungen zeigen, vielmehr durch seine technische Verfasstheit eine neue Form, auf die das Konzept der Medialität in ihrem Sinn einer kommunikativ-technischen Vermitteltheit nur begrenzt anwendbar ist.

In Zukunft wird man nicht allein empirische Daten zum Digitalen sammeln können; diese sind vielmehr gleichzeitig auch mithilfe fundierter (medien-)pädagogisch-anthropologischer Bestimmungen zu reflektieren. Mit dem Digitalen ändert sich nämlich die Komplexität der menschlichen Verfasstheit in vielfacher und teilweise wohl auch in radikaler Weise: Die leiblich-geistige Einbettung des Menschen in die Welt wird durch die Digitalisierung verändert, weil sie neue Formen der Erfahrung und der Erkenntnis, aber auch neue Möglichkeiten des Umgangs und der Kommunikation sowie neue Entwicklungen der Gefühle und Phantasien ermöglicht. Mit der Digitalisierung sind ebenfalls, ähnlich wie bei der Mediatisierung, umfassende Veränderungen nicht nur der individuellen Erfahrbarkeit von Welt, sondern der Evolution von Erkenntnis schlechthin betroffen (vgl. Ferrin 2013; Pietraß 2020).

Literatur

Anders, Günther. 1980. Die Antiquiertheit des Menschen. Band 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. (5. Aufl.). München: Beck.

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