Bestimmungen, Transformationen, Fragen
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Schlagworte

Ladatio
Homo digitalis
Anthropozän
Unbestimmtheiten

Zitationsvorschlag

Pietraß, Manuela, und Jörg Zirfas. 2024. „Bestimmungen, Transformationen, Fragen: Verleihung Der Best Paper Awards Im Rahmen Des Themenhefts ‹Homo digitalis›“. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie Und Praxis Der Medienbildung 63 (Homo digitalis):151-54. https://doi.org/10.21240/mpaed/63/2024.09.20.X.

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Copyright (c) 2024 Manuela Pietraß, Jörg Zirfas

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https://doi.org/10.21240/mpaed/63/2024.09.20.X

Laudationes

Die Jury, bestehend aus zwei Gutachtern, Prof. Dr. Ruprecht Mattig (Technische Universität Dortmund) und Prof. Dr. Dr. Matthias O. Rath (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg) und den beiden Herausgeber:innen des Themenheftes, Prof. Dr. Manuela Pietraß und Prof. Dr. Jörg Zirfas, hat zwei erste Preise für die eingereichten Texte vergeben: Zum einen an den Artikel von Dr. Christian Leineweber (zur Zeit an der FernUniversität in Hagen) «Die Transformation des Unbewussten. Selbstwissen unter den Bedingungen der Digitalität» (2024) und zum anderen an den Artikel von PD Dr. Sabrina Schenk (zur Zeit an der Universität Duisburg-Essen) «Der ‹Homo digitalis› und seine Spezies im Anthropozän» (2024).

Sabrina Schenk setzt sich in ihrem Text mit der Figur des Homo digitalis als anthropologische Resonanz auf die seit einigen Jahren intensiv geführten Debatten um die digitale Transformation von Technologien und Medienkonstellationen auseinander. Damit, so Matthias O. Rath, rekonstruiert sie «eine postaufklärerische und moderne Annäherung» der wechselseitigen ‹Techn(olog)isierung› des Menschen und ‹Anthropomorphisierung› der Maschine.1 Mit der anthropologischen Figur des Homo Digitalis lassen sich nicht nur mit diesen Entwicklungen verbundene Befürchtungen, sondern auch Gegenwartsdiagnosen und deren Begriffe ‹Anthropozän›, ‹Posthumanismus› oder auch ‹kybernetischer Naturzustand› in den Blick nehmen. Mit dem Homo Digitalis – so der Ausgangspunkt ihrer Überlegungen – wird historisch eine neue Zäsur im Verhältnis von Mensch und Technik markiert. Diese Zäsur besteht darin, dass durch die digitale Transformation und die Erfindung von digitalen Technologien inzwischen sämtliche Lebens- und Arbeitsbereiche des Menschen verändert wurden, womit sich der Rahmen für das Selbstverständnis, den Selbstausdruck und den Handlungsraum von Menschen erweitert hat. Dabei, und das zeigt der Text, hat das Entstehen des Homo Digitalis eine längere Vorgeschichte, die hinter das Einwandern von digitalen Technologien in unserer Gegenwartsgesellschaft zurückreicht.

Der «hinführende Charakter» des Textes (Rath), entfaltet somit die Digitalisierung als Techné mit Bezug auf anthropologische Implikationen nach den Selbst- und Weltverhältnissen des Menschen, indem er zentrale Diskurse und einschlägige Autor:innen wie Käte Meyer-Drawe, Erich Hörl oder Rosi Braidotti zur Sprache bringt. Ihr Ansatz lässt dabei die Frage offen, ob mit den besprochenen Ansätzen auch schon ein adäquates Theorievokabular zur Beschreibung der anthropologischen Verfassung und environmentalen Bedingungen der Spezies des Homo Digitalis vorgelegt wurde, oder ob die Auflösung des alten ‹homo sapiens› in anderen Kategorien beschrieben werden muss. Eine posthumanistische Perspektive scheint aber insofern auf, als Sabrina Schenk neue Beschreibungsweisen für die Wahrnehmung des techno-sozialen Zusammenhangs entwickelt, um die spezifischen Konstellationen und Bedingungen zu erhellen, in denen sich der Homo Digitalis bewegt.

Der Artikel hat insofern einen «eher tentativen, essayistischen Charakter», der einen anthropologisch-digitalen «Denkraum» (Mattig) eröffnet, in dem die Konzepte der Digitalisierung und die Reflexionen über den Menschen weiterführend situiert werden können. Anders formuliert, bleibt die Pädagogik mit Blick auf den Homo digitalis weiterhin einerseits aufgefordert, «über den Subjektbegriff nachzudenken» (Mattig) und dafür theoretische wie praktische Angebote zu machen. Dabei zwingt die Selbstverständigung über das Humane auch zu einer Verständigung über die neu zu fassenden gesellschaftlichen Grundlagen und künftigen Zielvorstellungen. Und andererseits wird auch deutlich, dass hinsichtlich der bildungstheoretischen und medienpädagogischen Anwendungen des neuen Zeitalters der Digitalität und des neuen ‹digitalen Menschen› noch erheblicher Klärungsbedarf herrscht.

In diesem Sinn ist wohl es bezeichnend und durchaus sympathisch, dass der Artikel von Sabrina Schenk zum «Homo digitalis und seiner Spezies im Anthropozän» mit einer Frage endet:

«Heissen wir den ‹Homo digitalis› also im Anthropozän, im Posthumanismus, im kybernetischen Naturzustand des Technozän – oder in der Post-Postmoderne willkommen? Die Diskussion darüber ist wohl gerade erst eröffnet.»

(Schenk 2024, 17)

Sabrina Schenk liefert mit ihrem Text für diese Diskussion einige sehr anregende Theoriebausteine. Und dafür erhält sie einen Preis.

Christian Leinewebers Schrift «Die Transformation des Unbewussten. Selbstwissen unter den Bedingungen der Digitalität» (2024) bezieht ihre leitende Frage auf die menschliche Besonderheit des Wissens um sich selbst, das immer zugleich Unbestimmtes als Unwissenheit mit sich führt. Hier setzt Leinewebers Untersuchung an, die einen sprachlich-tiefenpsychologischen Zugang mit einem bildungstheoretischen verknüpft. Ziel ist es herauszuarbeiten, dass Unbestimmtheiten im Selbstwissen durch digitale Ordnungsstrukturen wie Algorithmen, Künstliche Intelligenz, eine quantifizierbare Rationalität erhalten. Leitende These ist, «dass maschinelle Berechnungen nicht bloss auf der Ebene des Rationalen, Logischen und vernünftig Begründeten, sondern zunehmend auf der Ebene des Irrationalen, Assoziativen und Affektiven wirken» (Leineweber 2024, 70). Damit würde das Digitale entgegen dem von ihm hervorgerufenen Eindruck einer starken technologischen Rationalität auch eine andere, tiefenpsychologisch bestimmbare, eher triebhafte und wunschgesteuerte Seite des Subjektes ansprechen. Selbstwissen versteht Leineweber unter Bezug auf Charles Taylor als «sinnstiftende Selbstvergewisserungen» (vgl. Rosa 1998), welche in sprachlichen Artikulationen ausgedrückt werden. Doch weil Artikulationen immer auch falsch sein, sich als nur vorläufig zureichend erweisen können, sind, wie bei transformatorischen Bildungsprozessen, subjektive Repositionierungen erforderlich. Damit seien beide Ansätze, der sprach- und der bildungstheoretische, im Selbstwissen an «das Konzept der Unbestimmtheit gebunden» (Leineweber 2024, 74, Hervorh. i. O.). Dieser Bezug zwischen Mensch und Welt eröffne in der Bestimmung von Welt immer schon das Unbestimmte, was das Wissen des Menschen um sich selbst fragil sein lasse. An dieser Stelle setzt Leineweber seine Argumentation medien- bzw. technikbezogen fort: Unter Bezug auf das Phänomen von Formen der Selbstoptimierung sowie des sozialen und normativ gesetzten Vergleiches mit anderen beschreibt er die digitale Rationalität unter dem Aspekt der Quantifizierung als «Muster» (vgl. Nassehi 2019), die individuelle Verhaltensweisen messbar und festlegbar werden lassen. Damit versprächen sie in Zeiten der Individualisierung vielfältiger Lebensbereiche Sicherheit. Digitale Medien würden nun, «individuelle Wunschäusserungen und Entscheidungsfindungen immer stärker» (Leineweber 2024, 83) beeinflussen, indem «das Digitale in Form einer sich dem Bewusstsein entziehenden Grösse auf subjektives Handeln und Erleben» (ebd.) zugreife. Denn das Digitale verspreche Handlungssicherheit auf Basis von Berechnungen und Operationalisierungen. Es dränge sich aber die Frage auf, inwiefern es sich dabei, gemäss Luhmann, um «eine richtige Rationalisierung» (ebd., 84; vgl. Luhmann 2021, 31) handle – ein Gedanke, der nicht mehr neu ist, wie Leineweber mit Bezug auf Freud, Adorno und Marcuse bemerkt. Die Richtigkeit der digitalen Rationalisierung stellt Leineweber unter der Beobachtung in Frage, «dass maschinelle Berechnungen und Ordnungen nicht bloss auf der Ebene des Bewussten, sondern zunehmend auf der Ebene des Unbewussten in die subjektive Handlungs- und Erfahrungswelt eingreifen». Der wissende Mensch werde damit zu einem unwissenden, der anfällig sei, «unreflektiert auf maschinelle Empfehlungen und damit einhergehende Handlungsaufforderungen zu reagieren» (Leineweber 2024, 85). Es bleibt zu warten, inwieweit diese These tatsächlich empirisch bestätigt werden kann, was auch verlangen wird, die vermutete irrationale Schattenseite des Digitalen näher zu beschreiben. Wäre die These richtig, so wird man in medienpädagogischer Gewissheit mit Leineweber den Handlungsbedarf darin sehen können, «den eigentlichen Wert und die Motivation des eigenen Handelns bestimmen zu können» (ebd., 86). Doch diese empirische Unklarheit ist zugleich Grund für eine theoretisch-thesenbasierte Zugangsweise: Auf Basis von bereits bestehenden Kenntnissen zu Gesetzmässigkeiten und Zusammenhängen auf noch unbekannte Gebiete zu schliessen.

Weil sie gemäss beiden Gutachten theoretisch umfassend fundiert ist und hier eine hohe Stringenz aufweist, wurde Christian Leinewebers Schrift zur Auszeichnung ausgewählt.

  1. Die angeführten Zitate stammen aus den Gutachten.

Literatur

Leineweber, Christian. 2024. «Die Transformation des Unbewussten: Selbstwissen unter den Bedingungen der Digitalität». Herausgegeben von Manuela Pietraß und Jörg Zirfas. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 63 (Homo digitalis): 69–91. https://doi.org/10.21240/mpaed/63/2024.09.15.X.

Luhmann, Niklas. 2021. Die Grenzen der Verwaltung, herausgegeben von Johannes F.K. Schmidt, und Christoph Gesigora. Berlin: Suhrkamp.

Nassehi, Armin. 2019. Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft. München. C. H. Beck.

Rosa, Hartmut. 1998. Identität und kulturelle Praxis. Politische Philosophie nach Charles Taylor. Frankfurt a.M.: Campus.

Schenk, Sabrina. 2024. «Der ‹Homo digitalis› und seine Spezies im Anthropozän». Herausgegeben von Manuela Pietraß und Jörg Zirfas. MedienPädagogik: Zeitschrift für Theorie und Praxis der Medienbildung 63 (Homo digitalis): 1–20. https://doi.org/10.21240/mpaed/63/2024.09.12.X.